Vom Schutzjuden zum Bürger

Am Ausgang des Mittelalters wurden die Juden nach und nach aus den Reichsstädten und aus anderen Herrschaftsgebieten vertrieben. So auch aus dem Herzogtum Württemberg (1498) oder aus der vorderösterreichischen Grafschaft Hohenberg.

Im deutschen Südwesten fanden die Juden vor allem bei der Reichsritterschaft gegen hohe Abgaben, Schutzgelder genannt, eine Zuflucht. Am Ende des 16. Jahrhunderts ließen sich erste jüdische Familien in dem damals den Schütz vom Eutinger Tal gehörenden Dorf Baisingen nieder. Als erste Personen werden 1596 ein Handle, ein Wolf und ein David von Baisingen genannt,

wappen stauffAn die Schenken von Stauffenberg, denen das Gäudorf seit 1696 gehörte, muss jede jüdische Familie  jährlich ein Schutzgeld von 15 Gulden und eine Gans abführen. Die bürgerliche Gemeinde erhob den so genannten Judentaler in Höhe von 1 Gulden 30 Kreuzern zur Unterhaltung von Brunnen, Weg und Steg. Wollte ein Schutzjude Baisingen verlassen, so hatte er beim Abzug zehn Prozent seines Vermögens an die Ortsherrschaft zu entrichten.

Die kleine jüdische Gemeinde wuchs allmählich, so dass alle »Notwendigkeiten« wie Synagoge, Schule, Metzger und Friedhof bald erforderlich wurden, lediglich einen »eigenen« Rabbiner hatten die Baisinger nie. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebten hier 15 jüdische Familien, 1771 dann 21 Familien, die vor allem im engen Bereich der Judengasse wohnten. Vorsteher der jüdischen Gemeinde war der Parnass, später auch Juden- oder israelitischer Schultheiß genannt. Für 1776 wird ein jüdischer Privatlehrer namens Lehmann Kiefe (Reb Leime) erwähnt. Und 1778 wurde schließlich auf einer Wiese weit im Norden des Ortes der jüdische Friedhof angelegt.

Die schlichte Synagoge wurde 1782 vom Ortsherrn genehmigt und 1784 erbaut.

Die eingeschränkte rechtliche Stellung bestimmte die Lebensweise der Juden, ihre Möglichkeiten im Erwerbsleben waren auf wenige Bereiche eingegrenzt. Während der stauffenbergischen Herrschaft waren die Baisinger Juden - wie auch die anderen Landjuden - auf den Handel angewiesen. Sie durften auch kein Handwerk ausüben. Als Ausnahme galten freilich das Metzgergewerbe (rituelles Schächten) und die Schankerlaubnis für das Gasthaus (koschere Küche).

1806 kam Baisingen zum neuen Königreich Württemberg. Dieses führte nach und nach Gesetze ein, die die rechtliche Situation der Juden verbessern und zur so genannten Emanzipation beitragen sollten. Beispiele sind die Abschaffung des Leibzolls (1807), die Freigabe von unzünftigen und zünftigen Gewerben (1809), die Erlaubnis zum Güterbesitz (1811), die mit der württembergischen Gewerbeordnung von 1828 vorgenommene Loslösung des Fabrikbetriebs und Großhandels vom Zunftzwang.

In Baisingen existierte zwischen 1837 und 1846 eine mechanische Weberei mit Jacquardmaschinen, die der Besitzer Isaac Neuburger jedoch im Jahr 1846 nach Stuttgart-Heslach verlegte. Bis zur Jahrhundertmitte waren zahlreiche jüdischen Händler zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Die Zahl der Juden stieg von 115 im Jahr 1807 auf 235 im Jahr 1843, d.h. von 10 auf 30 Prozent der Bevölkerung. 1810 besaßen die Juden 19 Häuser im Dorf, meist im Umfeld der Synagoge.

1827 wurde eine israelitische Konfessionsschule gegründet, die der Aufsicht des örtlichen Pfarrers und des katholischen Kirchenrats unterstellt war.

1838 wurde die Synagoge umgebaut, es sollten mehr Sitzplätze entstehen. Dazu wurden feste Bankreihen und eine Frauenempore eingebaut. Dadurch gab es 200 Sitzplätze in der Synagoge.

Das württembergische Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen von 25. April 1828 stellte als sogenanntes "Erziehungsgesetz" das gesamte jüdische Gemeindeleben unter eine zentralisierte staatliche Leitung, um die weitgehende juristische Gleichstellung der Juden mit allen anderen Staatsbürgern und Untertanen zu legitimieren. Bis 1828 bildete die jüdische Gemeinde eine eigene Rechtskörperschaft, danach waren die Juden Teil der bürgerlichen Gemeinde. Die Baisinger Juden konnten jetzt aus der Enge der Schutzhäuser und der Judengasse ausbrechen, die Händler unter ihnen waren nun in der Lage ihre Absatzgebiete zu erweitern. Nicht nur die räumliche Trennung im Dorf war aufgehoben, die Juden waren nun Teil der bürgerlichen Gemeinde, gehörten ihr entweder als Bürger oder Beisitzer an mit entsprechenden Rechten und Pflichten. Seit 1836 beteiligten sich Juden an der Wahl des Gemeinderats und wurden ab der Jahrhundertmitte auch zu Gemeinderäten gewählt.

Ein anderes Zeichen für die »neue Zeit« war die Annahme von Familiennamen durch die Baisinger Juden im Jahr 1825, bereits drei Jahre vor der gesetzlichen Verpflichtung.

Zum folgenreichsten Konflikt zwischen Christen und Juden im vergangenen Jahrhundert kam es in Baisingen im Revolutionsjahr 1848. Im benachbarten Baden war es im März zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen. Am Pessachfest rotteten sich ca. 40 Männer aus Baisingen zusammen und verwüsteten die Häuser und Wohnungen der jüdischen Mitbürger, außerdem kam es zu Gewalttätigkeiten gegenüber den Juden. Die Scheiben der Synagoge wurden eingeschlagen und in den Innenraum Steine und Prügel hineingeworfen. 1850 wurden die Anführer des "Judenkrawalls" zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, andere Teilnehmer zu 4 Jahren Arbeitshaus.

Unmittelbar im Anschluss an die im März 1849 endgültig verkündete Frankfurter Paulskirchenverfassung und im Rahmen einer anhaltenden Revolutionsstimmung beschlossen insgesamt 20 Staaten des Deutschen Bundes entsprechende Gleichstellungsgesetze. Doch wenige Jahre danach gab es erneut Rückschläge, und vielerorts wurden die 1848/1849 erlassenen Gesetze wieder aufgehoben.

Die volle bürgerliche Gleichstellung der Juden wird in Württemberg erst 1864 gesetzlich verankert. In den Städten ging der Assimilationsprozess rascher voran, während die immer kleiner werdenden Landgemeinden eher traditionell eingestellt blieben.

Im Deutschen Reich nach 1871 sahen sich viele Juden als »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«. So zeigten die Baisinger Juden ihre Freude nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1871: »Ein einmaliges Bild! Als nach dem Krieg der Frieden geschlossen wurde, veranstalteten die Juden, Männer, Frauen und Kinder, einen langen Fackelzug durchs Dorf.«

Diese patriotische Einstellung zeigte sich auch an der Teilnahme der Mitbürger jüdischen Glaubens am 1. Weltkrieg. Vier der 23 jüdischen Kriegsteilnehmer aus Baisingen starben, auch an sie erinnert das Kriegerdenkmal vor der katholischen Kirche.

1933 lebten in Baisingen etwa 90 Juden; es bestand eine intakte jüdische Gemeinde mit Lehrer und Vorsänger. Nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 wurden die Schikanen und Boykottmaßnahmen des NS-Regimes von Jahr zu Jahr drückender und drohender. Mit den Nürnberger Gesetzen wurde der Antisemitismus staatlich verordnet.

In der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Die schlichte barocke Baisinger Synagoge entging dem Feuer. Ihre unmittelbare Nähe zu den Nachbarhäusern verhinderte, dass SA-Leute das Gebäude niederbrannten. Das Innere der Synagoge wurde verwüstet; hierzu kamen 70 bis 80 SA-Leute aus Horb und Umgebung in den Ort. Einzelne SA-Trupps drangen auch in Häuser von Juden ein, ortsansässige Bürger hatten ihnen den Weg gewiesen.

Von Baisingen aus wurden 1941 und 1942 mehr als sechzig Juden deportiert, darunter etwa dreißig Zwangsumgesiedelte. Im November 1941 wurde der erste »Transport von württembergischen Juden« auf dem Stuttgarter Killesberg zusammengestellt.

Die nächste Deportation von badischen und württembergischen Juden erfolgte wenige Monate später. Von den 16 Baisinger Juden, die am 26. April 1942 von Stuttgart aus nach Izbica bei Lublin in Polen deportiert wurden, überlebte keiner. Die letzten Juden aus Baisingen, rund 30 alte Leute, mussten am 19. August 1942 nach Stuttgart gebracht werden.

Von den Baisinger Juden überlebten nur wenige das Kriegsende. Harry Kahn kam im Sommer 1945 nach Baisingen zurück. Er war der einzige, der auf Dauer blieb. Das Ehepaar Adolf und Therese Haarburger wurde in Baisingen nicht mehr richtig heimisch. Sie wanderten später nach Melbourne in Australien aus.